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Es mag vielleicht schon vorgekommen sein: man sitzt in einer japanischen Kneipe und bestellt Sake – besser noch, mit dem passenderen Begriff nihonshū, oder simpel auf deutsch, ein Glas Reiswein – und es passiert folgendes. Der Kellner kommt wieder, mit im Gepäck ein kleines Glas, einen viereckigen Holzbecher, in die er nun das Glas stellt und schenkt nun in das Glas soviel Sake ein, dass es überlauft und auch den Holzbecher füllt. Den Vorgang kann man nun aus verschiedenen Gründen toll finden, doch wenn man anschließend Nachforschungen anstellt, bemerkt man, dass dieser sosogi koboshi genannte Vorgang unter Verwendung einen quadratischen Holzbecher sehr kontrovers betrachtet wird.
Das Sake Service Institute (SSI)
Wie stellt man nun aber Nachforschungen über das Thema Sake an? Die Welt des japanischen Sake hat eine Dimension erreicht, die durchaus mit der Welt des Weines vergleichbar ist. Verschiedene Anbauregionen, zahlreiche Arten und Variationen von Sake und mehr. Da überrascht es wenig, dass es so etwas wie eine Ausbildungsstätte für Sake gibt: das Sake Service Institute (SSI) in Tokyo, welches sich explizit mit sämtlichen Fragen rund um japanischen Alkohol beschäftigt – namentlich Sake und shōchū (焼酎, Spirituosen). Die Ausbildung am SSI teilt sich u.a. in…
- Sommelier für Sake kikisakeshi 「利酒師」 (25762 Ausgebildete)
- Sommelier für Shochu shōchū kikisakeshi 「焼酎唎酒師」 (6850 Ausgebildete)
- und Expertenausbildung sakashō 「酒匠」 (236 Ausgebildete)
…auf (Stand jeweils Dezember 2012). Die Ausbildung zum International Kikisakeshi haben bereits 246 Personen (Stand Februar 2014) hinter sich gebracht.
Über Sosogi Koboshi
Begriffe
- izakaya 「居酒屋」: Kneipe
- nihonshū 「日本酒」: Reiswein, oft auch Sake genannt.
- sosogi koboshi 「注ぎこぼし」: Zusammengesetzt aus den Verben sosogu (einschenken) und kobosu (verschütten).
- koboshi’shū 「こぼし酒」: anderer Begriff für die Einschenkmethode sosogi koboshi. “Überlaufender Alkohol”.
- masu 「枡」: Quadratischer Holzbecher, früher auch Messbehälter zum Trinken von Sake.
Interview mit Haruyuki Hioki vom SSI
Um jetzt mehr Verlässliches über Sosogi Koboshi zu erfahren, hat sich die Kolumnistin Alice Gordenker mit dem Geschäftsführer von SSI International, Haruyuki Hioki, zusammen gesetzt.
Laut Haruyuki ist Sogoshi Koboshi – wie viele andere Dinge im heutigen Japan auch – gar nicht so traditionell wie man denken könnte*. Es wurde erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der Arbeitesklasse populär. Eine besondere Bedeutung oder Tradition dafür gab es nicht. Erst später, vor allem im letzten Jahrzehnt, erfuhr dem Sosogi Koboshi ein Aufschwung, zusammen mit der Angewohnheit, Sake gekühlt zu trinken anstelle von Zimmertemperatur oder erhitzt.
*Viele vermeintlich traditionelle Dinge haben sich in Japan erst im Verlauf der Meiji-Zeit (1868-1912) oder später verbreitet. Zum Beispiel der Fersensitz Seiza oder zahlreiche japanische Gerichte.
Viele Gäste werden wohl zunächst wegen der Ästhetik Gefallen an Sosogi Koboshi finden. Ein kleiner Aufbau und dann vorsichtig den Sake in das Glas einschenken, welches überlauft und dann auch den Holzbecher füllt. Es gibt aber keinerlei Etikette im Zusammenhang mit Sosogi Koboshi, weder beim Servieren noch beim Trinken. Gerade das Trinken bereitet Probleme: Wie trinke ich aus dem Glas, dass randvoll ist, ohne etwas zu verschütten? Trinke ich direkt aus dem Holzbecher oder schütte ich es in das Glas? Trinke ich aus dem Holzbecher weiter, was mache ich dann mit dem Glas (ist schließlich nass vom Alkohol)? Alles Fragen, die den persönlichen Präferenzen unterliegen.
Was gegen Sosogi Koboshi spricht
Das Sosogi Koboshi ist in Japan aber nicht über alle Zweifel erhaben. Abgesehen davon, dass es dazu keinerlei offizielle Etikette gibt und es daher nie im offiziellen Rahmen Anwendung findet, sprechen noch folgende Punkte gegen diese Einschenkmethode.
Hygiene
Es werden hinsichtlich der Hygiene zwei Probleme sichtbar, wenn man sich den Aufbau von Sosogi Koboshi genauer anschaut. Zum einen haben wir ein Gefäß, welches direkt in ein anderes Gefäß platziert wird. Der Sake im Holzbecher kommt also mit dem Boden des Glases in Berührung, welches zuvor im Regal stand. Die gesundheitlichen Risiken dabei mögen sich vielleicht in Grenzen halten, sind aber für Haruyuki Hioki nicht zu unterschätzen und ernst zu nehmen.
Weiterhin ist der quadratische Holzbecher an sich problematisch. Wegen seiner Form sind die inneren Ecken nur schwer zu reinigen, das Holzmaterial tut sein weiteres beim Festsetzen von Keimen und Bakterien.
Gerade die hygienischen Bedenken werden in der japanischen Blogsphäre stark diskutiert.
Intransparenz
Bestellt man sich Sake, wird dem Gast für gewöhnlich in der Maßeinheit gō 合 serviert, wie ichigō 「一合」 (180ml, für eine Person) oder sangō 「三合」 (540ml, für mehrere Personen) serviert. Hier weiß man exakt, wieviel man bekommt und das Ichigo gilt für Haruyuki als der Standard für eine Bestellung Sake. “Einen Sake bitte!” übersetzt sich daher in “Ichigo / 180ml Sake bitte!”. Bei Sosogi Koboshi kann man sich jedoch nicht sicher sein, wieviel man nun bekommt, betrachtet man die Gläser mit ihren zahlreichen Größen und Formen. Haruyuki spricht hier schon von Betrug, denn oft bekommt man bei Sosogi Koboshi weniger als die zu erwartetenden 180ml.
Gegenfrage: Kann man sich bei der Vewendung einer Tokkuri (siehe Bild unten) sicher sein, 180ml bzw. 540ml zu bekommen?
Ausnahme: feierliche Anlässe
Es sieht schon danach aus, als hätte der viereckige Holzbecher absolut keine Daseinsberechtigung. Aber halt! Einen Verwendungszweck nennt Haruyuki für die Holzbecher dann doch und das sind feierliche Anlässe, wie zum Beispiel Hochzeiten. Bei solchen Feiern wird oft Sake aus großen Fässern ausgeschenkt und zwar in neue Holzbecher, in die Datum, Name der Braut und des Bräutigams eingraviert sind und als Erinnerungsstück für Zuhause gedacht sind. Eine mehrmalige Verwendung ist für diese Holzbecher dann jedoch nicht vorgesehen.
Fazit
Es ist nun schwer, Sosogi Koboshi ruhigen Gewissens zu genießen oder selber auszuschenken. Sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Rahmen können die Faktoren Hygiene und Intransparenz eine Rolle spielen. Man kann aber auch einwenden, dass Gläser oftmals verkehrt herum im Regal stehen, d.h. das Mundstück mit dem Regalboden in Berührung kommt. Im privaten Rahmen ist Sosogi Koboshi finanziell sicherlich unbedenklicher – die Flasche ist später am Abend wahrscheinlich so oder so weg, immer zum selben Preis ;-)
So wie es keine Etikette gibt, so muss jeder für sich selber entscheiden, wie er mit Sosogi Koboshi umgeht. In Kneipen tut eine gesunde Portion Mißtrauen aber wohl gut.
Daher ist nun der Leser gefragt: Ist hier überhaupt eine Kontroverse zu erkennen oder wird alles nur übertrieben aufgebauscht? Findet Sosogi Koboshi ästhetische Anerkennung oder ist es lediglich spielerischer Schnickschnack?
Quellen:
http://www.japantimes.co.jp/news/…
http://www.ssi-w.com/